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Archive

Restwelt oder das letzte Archiv


»Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Die nackten Toten die sollen eins
Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein;
Blankbeinig und bar des blanken Gebeins
Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf Sternenlicht.
Wenn sie irr werden solln sie die Wahrheit sehn,
Wenn sie sinken ins Meer solln sie auferstehn.
Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht;
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben. (…)«

Dylan Thomas


Anders als die Archive der verlorenen oder verbannten Dinge, steht das letzte Archiv für das Übriggebliebene, das schon Obsolete aber gerade noch Anwesende. Gleichsam Wächter an einer Pforte zu einer Spiegelwelt die all das Vorhandene vom Ballast des ephemer Physischen befreiend, von nun an in einem Idealraum versammelt. Der Umzug ist fast schon vollzogen. Der Raum der Chiffren, die Ihre Qualität noch aus dem Vergleich zu einem standfesten Vorbild entwickelt haben, stellt sich allerdings selbst als Transferraum dar, hin zu einer Welt der reinen Zeichen, dem der Referenzlosen, die sich schlussendlich nicht nur einer Idee von Herkunft entledigen, sondern auch der einer Perspektive – in einer Welt der reinen Zeichen ist Existenz nicht mehr an ein Woher und Wohin gebunden.

Die Archive der Nochwelt wirken wie eine Nachhut einer Kultur der Ordnungen und Ordnung, – man lässt das Haus ordentlich zurück – und, wer weiß, im Notfall lässt sich darauf zurückgreifen. In dieser Rückversicherung gründet eine Hoffnung, die, zumindest in einem Teil, das Motiv musealer Konzepte ist und das auch an diesen letzten Archiven haftet. Neben der Idee, man könne die Dinge wieder hervorholen, falls sie gebraucht würden oder, noch vermessener, vorwärts gehe es nur über die Rückschau, als könne man sich am Antiken messen, quasi abstoßen am Fundament des Vergangenen, als häufe es sich auf, das Gewesene, zu einem Berg, einer Rampe die himmelwärts strebend Richtung gibt und Aussicht verheißt – Runway ins Next.

Von wegen, wir stehen auf den Schultern von Riesen, diese Demut ist verfehlt, zu offensichtlich das Kommode, die Verheißung eines Komforts der insofern beruhigt, als die Vergangenheit (meist) keine Überraschungen mehr bereithält, in ihr ist alles an seinem Platz, final zurechtgerückt und unverrückbar – der Ereignisraum ist diesseits. Auch, wenn von der Gegenwart aus, der Geschichtsraum seit je her mit dem Argument der Unabänderlichkeit als Plausibilitätsbeleg munter um- und neuinterpretiert wird. Jedes Geschichtsbild entspringt einer Kultur der Rückschau und trägt das Signum seiner Zeit.

Und wie weit greife man zurück, etwa mit der romantischen Idee von einer respektablen Herkunft, im Blick die Ahnen, die einen dereinst mit gezeugt und als deren Spross man nun wähnt ein respektables Erbe vertreten zu können? Alle Erzählungen gründen in einem Überhöhungsmythos, je ferner, desto idealer – jeder ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, auch Nachfahre eines Wahnsinnigen. Da ist es fast schon beruhigend ein Großteil des Genoms mit Gurken zu teilen dürfen, das zumindest, ist gesichert.

Sind Bibliotheken und Museen als Kulminationszonen des Besonderen nicht auch Orte der Aussonderung, Archive einer Mythologie des Essentiellen, die, bleiben sie nicht auf dem Prüfstand, diese Orte verlässlich in Mausoleen des Irrelevanten wenden? Die Erfahrungen und Strategien des Gestern, was sind sie wert im Heute?

Das Diktum Nie-Wieder der Apologeten einer Erinnerungskultur, darauf gepfiffen – die Nachkommen haben im Wettbewerb des Grauens verlässlich immer noch eine Schippe drauf gelegt. Die Zeugnisse der Unkultur und der Verbrechen hat noch niemanden gehindert und Zeichen sind, wie die Dinge allesamt, gleichgültige Gefäße, ihr Inhalt fluide – sie nehmen nicht nur alles an und auf, sie selbst sind überdies höchst wandelbar und anpassungsfähig.

Ein Gegenstand in einem Regal ist ein toter. Um welche Art Gegenstand handelt es sich bei einem Archiv, dieser systemischen Einrichtung zur Erfassung, Sammlung und Erhaltung von Dingen? Den Sammlungsgegenständen entledigt zeigen die nackten Archive eine reine, grammatikalische Form.

Der Charakter dieser Form ist geprägt durch strukturelle, sich in Mustern wiederholenden Arrangements und Anordnungen von Skeletten und Flächen, einer orthogonalen Staffelung von Vertikalen und Horizontalen – einer Erweiterung der Ebene durch Vervielfältigung und Stapelung. Das Archiv wächst in die Höhe, ist eine Erhebung, es strebt himmelwärts, ist Wegmarke, ein Gestell das sich gegen die Schwerkraft stemmt und gleichermaßen darauf baut. Schränke, Kisten und Kästen, die offenen, wie geschlossenen Konzepte folgen vordergründig dem funktionalen Grundprinzip der Segmentierung und des Rapports, die Wiederholung ist dabei ebenso Zeichen des Temporären, sie folgt dem Prinzip des Rhythmus, durch sie hindurch verwebt sich das Woher mit dem Wohin – ohne Wechsel der Tempi, keine Änderung, keine Irritation. Ein stabiles Ticken einer Struktur der Verlässlichkeit. Das Rasterhafte beruhigt, es befriedet und sediert, während die Dinge, das Lagergut, für das volatil Fluktuierende steht. Das Archiv ist ein Gleichmacher, weil es die Dinge, die es aufnimmt in einen Kanon der Bezüge und in einen Rahmen setzt, in ihm werden die Dinge akzidentiell. Lagerstätten sind, drüber hinaus, wie das Meiste, umgeben von unterschiedlichen unabhängigen Bedeutungsräumen, die sich aufeinander beziehen, voneinander ableiten und ebenfalls strukturelle Qualitäten entwickeln. Zunächst sammeln die Archive die Dinge, um sie zu versammeln, in dem sie sie aufnehmen und aufstellen, in Stellung bringen, d. h. die Organisation, die Struktur des Archivs inkubiert, ist Katalysator weiterer Ordnungsprinzipien, die sich einerseits von der Art der Dinge ableiten und auf die sie, andererseits, zurückgespiegelt werden. Das Ding bereits ist Sammlung, versammelt – das Ding dingt (Heidegger) – und ordnet sich im Kontext der Sammlung oder anderer Ordnungen, wie der Funktionen, Einrichtungen und weiterer Bezüge neu und unter.

Je nachdem, werden unterschiedliche Sammlungen angelegt, die das ganze Spektrum allgemeiner Dingbeziehungen abbilden. Von funktional utilitären Ordnungen, die den leichten und sicheren Zugriff ermöglichen (Bibliotheken / Archive), über die Zusammenstellungen mit ästhetisch distinktiven Hintergründen, die den Sammler schmücken und repräsentieren (Wohnzimmervitrinen / gläsernen Abteile / Arrangement der Besitztümer), hin zu den reinen Sammlungen, die sich in einer Enthemmung eines Sammlungsungrundes verlieren, getrieben auf der Jagd nach einem ominösen noch fehlenden Stück. In diesem letzten Stück allerdings steckt auch die Katastrophe dieses Circulus vitiosus, mit ihm endet der entgrenzte Lauf einer Paradoxie in der der Sammlungsgegenstand, der Inhalt, in der Struktur, der Form kollabiert.

Ein kulturgeschichtlicher Versuch über das Sammeln und Horten muss sich zunächst mit der Geste des sich Sammelns beschäftigen, einer Geste die auf den äußerst fragilen Umstand dessen, was Leben bedeutet verweist, als einem Zustand, der sich am ehesten als Phänomen der Sammlung als Voraussetzung der (Selbst)Behauptung beschreiben lässt, der Konzentration, der Spannung und Haltung gegen die latente Bedrohung der Umgebungskräfte, des Zerfließenwollens, der Entropie – denn alles strebt auseinander und verliert sich, wenn es nicht gehalten wird und sich nicht sammelt. Der Mensch ist, solange er an sich und bei sich hält. Hierzu zählen wesentlich die Dinge, derer er habhaft wird, an denen er sich festhält und entlang hangelt, mit denen er Wälle errichtet gegen den Verlust. Er nutzt sie, um Spuren zu hinterlassen, er schreibt sich mit Ihnen ein in die Welt, sie zeigen an, woher er kommt und wohin er gehen soll, denn bereits in der Spur ist ein Entwurf auf Zukunft angelegt. Darüber hinaus ist jedes einzelne Ding selbst Sammlungsphänomen, Verdichtungen der Form und des Inhalts, Zeugnis und Erzeugnis und als Produkte sind sie Archive des Wissens, der Bedingungen und der Möglichkeiten, spiegelbildlich zeigen sie das Vorhandensein des Menschen und die Handlungs- / Spielräume, sowie das Verbindende und Verbindliche. An und über die Dinge entwickelt sich das Geflecht der Beziehungen des Einzelnen zu sich selbst und zur Gemeinschaft. Und obwohl vergänglich, ist nicht nur an den Solideren etwas das über den menschlich zeitlichen Horizont hinausweist, es ist ihre Interesselosigkeit die den Mythos des Beständigen, überzeitlich Idealen evoziert.

Die menschlichste Form der Sammlung ist die der Eitelkeiten, hier finden sich am ehesten die zwecklosen, die betörenden Dinge, in deren Glanz wir uns spiegeln und gleichermaßen sonnen, deren Attraktivität allerdings einen Vorbehalt formuliert, womöglich einen Attraktivitätsbonus, der darin gründet, dass man ihnen nie ganz habhaft wird, woran der Besitz an ihnen auch wenig ändert. Es ist das Versprechen auf eine narzisstische Auszeit, auf ein Selbstvergessens in einem Momentausstieg, das sich an die schmückenden Dinge heftet, hervorgerufen durch den Reiz des Gefälligen, das an- aber nicht aufregt: niedrigschwelliges Vergnügen an sich selbst.

Die Schönheit des Gegenstandes bleibt ein Lehen. Mit ihm ist es ein fragiles Vergnügen auf Zeit, das sich Schmücken eine Frage des Maßes, bestenfalls finden sich Schmückender und Schmuck in einer Balance, in einem Tét a Tét der Kongruenz und das Resultat ist ein Gewinn – dann steigert sich das Schöne im Schönen.

Betrachtung und Anschauung sind die beiden Pole eines Verhältnisses, das auf den Moment baut, das Gefallen an sich selbst, das (noch) nicht Selbstgefällige, Narzisstische. Es ist das im Grunde Selbstgenügsame, in diesem Sinne, Unschuldige und um so mehr ein besonderer Attraktor, als es die Aufmerksamkeit des Foyers nicht erheischt und, ihn unbeachtet, für diesen um so begehrenswert erscheinen lässt: Schönheit ist bloß ein Versprechen von Glück. (Stendhal)

Die ersten Sammlungsgegenstände der ästhetischen Art werden mitgeführt, Körperattribute, schmückende Akzidenzien, die auf die funktionellen Bedingungen des Körperraumes abgestimmt sind und integriert werden. Die Gegenstände durften die essentiellen Handlungsabläufe nicht behindern. Während der Körper noch der Ort der mehr oder minder eingeschränkten Kontrolle ist, ändert sich das mit der Sesshaftigkeit. Diese wirkt sich aber zunächst insofern auf den Körper aus, als es als ein Zeichen von Luxus zu deuten ist, Dinge mitzuführen, die den Körper nicht nur demonstrativ schmücken, sondern diesen, gerade in Bezug auf essentielle Tätigkeiten, einschränken und behindern – je mehr es sich der Mensch leisten konnte, keinen lebensnotwendigen Tätigkeiten durch Einsatz des Körpers nachgehen zu müssen, desto eher können sich non- und sogar dysfunktionale, rein ästhetisch angelegte Dinge entwickeln. Dies heißt nicht, dass der nun mögliche Aufmerksamkeitshift, von der Notwendigkeit hin zur Kontemplation, eine Bewegung in die Sorglosigkeit wäre. Der nun mögliche zweckfreie Perspektivwechsel vom Existentiellen auf die Existenz lässt nicht nur eine neue, andere Sicht der Dinge zu, es erzeugt Fragen und auch ein Bodenloses, einen Schwindel und damit einhergehend, wie Nitsche es formuliert, »Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins«. Für ihn ist es die Kunst, das Ästhetische, und, wenn nicht das Vergnügen, dann doch die Beruhigung am und durch das Unnütze: »Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.«

Man muss nicht Nitsches Behauptung folgen um angesichts der Unmöglichkeit einer Antwort darauf, warum das alles, eine Tristesse und die Sinnlosigkeit des Daseins zu spüren, welche in ihrer ungeheuren Brutalität den Menschen nicht zumutbar ist.

Eine mächtige Variante des Trostes durch schöne Dinge ist in den besonderen Dingen, den Devotionalien und liturgischen Gegenständen zu finden. Der Glaube an einen Gott, verstanden als eine Methode der Schockbewältigung angesichts universeller Gleichgültigkeit, wird, mangels allgemeiner physischer Präsenz der Sinnschöpfer, und zwar jegliche Couleur, seit Menschengedenken durch Dinge und entsprechende Behausungen bzw. Archive substituiert und repräsentiert. Diesen besonderen Dingen wird, wenn jene auch nicht immer ohne Funktion sind, dann nämlich zweckgebunden an den liturgisch symbolischen Gebrauch, eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Sie zeichnet aus, dass es sich in der Regel, um Dinge gemeinschaftlicher Rezeption handelt, die überindividuell einen allgemein verbindlichen Kodex des Glaubens repräsentieren. Die Organisation oder Sammlung der Dinge, wie bei Asservaten, Bibliotheken und Museen, obliegt in der Regel der Glaubensgemeinschaft. Mit ihnen werden die legitimen Standards des Weltverständnisses und der Lebens- und Todesbewältigung etabliert. Die Behauptung ist schlicht, wo es die Dinge eines Gottes gibt, muss es auch den Gott geben.

Zu den essentiell funktionellen Sammlungen gehören die Werkzeuge. Zunächst recht übersichtlich dienten ein Konvolut aus 2 oder 3 Objekten (Hebel, Schneide und Hammer / Schlagwerkzeug / Projektil) als Medien der Welterschließung. Der noch nicht sesshafte Mensch führte diese mobile Sammlung mit sich. Als Extensionen des Körpers verstanden, musste Hab und Gut leicht, gut zu transportieren und handlich sein. Teil der Sammlung war der Bauplan, denn das Wissen um die Herstellung und Anwendung, war das leichtere Gepäck, sodass das probate Werkzeug an Ort und Stelle mit den vorgefundenen Materialien hergestellt werden konnte.

Mit dem Verzicht auf latente Umtriebigkeit und der Entstehung einer Agrikultur einher, ging zwangsläufig die Entwicklung von Techniken der sicheren Verwahrung der Erzeugnisse, des Aufschubs des natürlichen Verlaufs der Dinge, des Verfalls. Die Speisekammer war Ausdruck und Beleg eines Paradigmenwechsels, statt von der Hand in den Mund waren es nun Gefäße, Tiegel und Töpfe, Behältnisse für das überlebensnotwendige wertvolle Gut als erste Fassung der Ernte als einer Investition in die Zukunft, welche über die Durst- und vor allem Hungerstrecken der fruchtlosen Jahreszeiten hinüberrettete. Die Kammern entwickelten sich als weitere, zweite Fassung der Gefäße – noch finden sich in Kellern und Nischen vergessenes, häufig überlagertes Gut, doch erstaunlich frisch wirken zuweilen Kirsche, Apfel und Birne durch das Glas, ein letzter jenseitiger mütterlicher Gruß der Fürsorge und der Liebe.

Grundsätzlich definiert sich mit der Sesshaftigkeit das Verhältnis der körperzentrierten Machtsphäre neu, diese wird externalisiert und dehnt sich auf einen tendenziell grenzenlosen Raum aus. Anders als der Körper bieten die neuen Territorien vor allem dem Aspekt der Demonstration, der Repräsentanz und Distinktion ein solides Fundament und eröffnen darüber hinaus die Grundlage weiterer bis dahin nicht geübter Sammlungen neuen Typs.

Der Klassiker unter den funktional soliden Sammlungen sind die Bibliotheken die sich nun mit ihren digitalen Entsprechungen, einen tragischen, weil bereits verlorenen Wettstreit liefern. Zwar kann das Phänomen beobachtet werden, dass das Neue zu einer Revitalisierung des Verdrängten führt, dass in Momenten der Verunsicherung – eine Katharsis ist solch ein Moment – die alten Muster bedient werten, ein letztes Aufbäumen – sicher ist sicher und die Bibliotheken wachsen noch, selbst Papyrus hat sich als ausgesprochen haltbar erwiesen, insbesondere gegenüber den fluiden Speicherinhalten deren Gefäße sich als noch ausgesprochen instabil erweisen und, wer auf Sicherheit setzt, setzt, nach wie vor, auf Papier.

Den konventionellen Archiven geht es um Haltbarkeit, als dem zentralen Paradigma, festhalten über die Zeit. Voraussetzung für den Wissensdurstigen ist ein Vorwissen, er muss nicht nur um die Organisation und die Abläufe des Zugriffs Bescheid wissen, er musste sich außerdem aufmachen, auf einen Weg der begleitet wird von Unsicherheit, darüber, dass das Erhoffte auch tatsächlich ein Vorhandenes ist.

Während die Maß- und Ortlosigkeit der Archive der Bits und Bytes den Modus operandi in der Echtzeit darstellen, dem Wissenwollen stets zu Diensten, in einem Entgegenkommen und so ihre Speicher nicht nur in einer Daueranwesenheit halten, sondern in Qualität und Quantität – Go with the Flow – dem Fragenden smart, da unbemerkt, wie ungefragt anpassen: denn sie wissen (bereits) was wir wollen.

Die Beziehung der Archive zu den Dingen ist der, dass die Archive um der Dinge wegen entworfen sind und nicht umgekehrt, die Dinge für eine Behausung. Wobei der Real- oder Nochraum der Nachmoderne von einer Tendenz zur Dominanz der Struktur gegenüber der Form geprägt ist. Hohe Präsenz und der Anspruch auf permanente Verfügbarkeit erfordert, aus Platz-, Energie- und Manövrierungsgründen, schon rein funktional, die regalkonforme Stadt. Die Dinge fluktuieren zwischen den Hochregallagern der Vorstädte und den regalartigen Wohnanlagen, wo sie in die dafür vorgesehen Ordnungsstrukturen der Wohnmodule, auf der Grundlage ordnungskompatibler Prinzipien und Muster überführt, den ihnen zugemessenen Platz finden.

Und noch nehmen die Dingkonglomerate zu, sie häufen sich und werden organisiert, halb atavistische Übersprungsgeste, halb von Unsicherheit getrieben, einem Unbehagen, welches daher rührt, noch nicht sattelfest zu sein, drüben, in der anderen Welt. So akkumulieren die Sammlungen der Realien zunehmend ins Leere, die Dinge verlieren ihren Sinn und wir den Halt an ihnen, die Stoßrichtung eindeutig, zu attraktiv das Hinübergleiten. Der Mensch der Datenbrille, trägt Aktions- und Erlebnisraum auf der Nase, während der Umgebungsraum, der reale, zum öden Transferraum verkommt.

Das letzte Archiv ist idealerweise ein leeres Gehäuse, für nichts bestimmt ist es offen für alles Mögliche, prädestiniert für Retroreflexe und auch ohne Besatz bereits ein starkes Zeichen: das leere Regal, es verführt geradezu zur Reminiszenz an den Verlust, wie das Verlassensein.

In ihm fängt sich höchstens, dann und wann, ein romantisches Gefühl, eine Melancholie, die etwas Staub ablegt in den Ecken.

Archive

Restwelt oder das letzte Archiv


»Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Die nackten Toten die sollen eins
Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein;
Blankbeinig und bar des blanken Gebeins
Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf Sternenlicht.
Wenn sie irr werden solln sie die Wahrheit sehn,
Wenn sie sinken ins Meer solln sie auferstehn.
Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht;
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben. (…)«

Dylan Thomas


Anders als die Archive der verlorenen oder verbannten Dinge, steht das letzte Archiv für das Übriggebliebene, das schon Obsolete aber gerade noch Anwesende. Gleichsam Wächter an einer Pforte zu einer Spiegelwelt die all das Vorhandene vom Ballast des ephemer Physischen befreiend, von nun an in einem Idealraum versammelt. Der Umzug ist fast schon vollzogen. Der Raum der Chiffren, die Ihre Qualität noch aus dem Vergleich zu einem standfesten Vorbild entwickelt haben, stellt sich allerdings selbst als Transferraum dar, hin zu einer Welt der reinen Zeichen, dem der Referenzlosen, die sich schlussendlich nicht nur einer Idee von Herkunft entledigen, sondern auch der einer Perspektive – in einer Welt der reinen Zeichen ist Existenz nicht mehr an ein Woher und Wohin gebunden.

Die Archive der Nochwelt wirken wie eine Nachhut einer Kultur der Ordnungen und Ordnung, – man lässt das Haus ordentlich zurück – und, wer weiß, im Notfall lässt sich darauf zurückgreifen. In dieser Rückversicherung gründet eine Hoffnung, die, zumindest in einem Teil, das Motiv musealer Konzepte ist und das auch an diesen letzten Archiven haftet. Neben der Idee, man könne die Dinge wieder hervorholen, falls sie gebraucht würden oder, noch vermessener, vorwärts gehe es nur über die Rückschau, als könne man sich am Antiken messen, quasi abstoßen am Fundament des Vergangenen, als häufe es sich auf, das Gewesene, zu einem Berg, einer Rampe die himmelwärts strebend Richtung gibt und Aussicht verheißt – Runway ins Next.

Von wegen, wir stehen auf den Schultern von Riesen, diese Demut ist verfehlt, zu offensichtlich das Kommode, die Verheißung eines Komforts der insofern beruhigt, als die Vergangenheit (meist) keine Überraschungen mehr bereithält, in ihr ist alles an seinem Platz, final zurechtgerückt und unverrückbar – der Ereignisraum ist diesseits. Auch, wenn von der Gegenwart aus, der Geschichtsraum seit je her mit dem Argument der Unabänderlichkeit als Plausibilitätsbeleg munter um- und neuinterpretiert wird. Jedes Geschichtsbild entspringt einer Kultur der Rückschau und trägt das Signum seiner Zeit.

Und wie weit greife man zurück, etwa mit der romantischen Idee von einer respektablen Herkunft, im Blick die Ahnen, die einen dereinst mit gezeugt und als deren Spross man nun wähnt ein respektables Erbe vertreten zu können? Alle Erzählungen gründen in einem Überhöhungsmythos, je ferner, desto idealer – jeder ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, auch Nachfahre eines Wahnsinnigen. Da ist es fast schon beruhigend ein Großteil des Genoms mit Gurken zu teilen dürfen, das zumindest, ist gesichert.

Sind Bibliotheken und Museen als Kulminationszonen des Besonderen nicht auch Orte der Aussonderung, Archive einer Mythologie des Essentiellen, die, bleiben sie nicht auf dem Prüfstand, diese Orte verlässlich in Mausoleen des Irrelevanten wenden? Die Erfahrungen und Strategien des Gestern, was sind sie wert im Heute?

Das Diktum Nie-Wieder der Apologeten einer Erinnerungskultur, darauf gepfiffen – die Nachkommen haben im Wettbewerb des Grauens verlässlich immer noch eine Schippe drauf gelegt. Die Zeugnisse der Unkultur und der Verbrechen hat noch niemanden gehindert und Zeichen sind, wie die Dinge allesamt, gleichgültige Gefäße, ihr Inhalt fluide – sie nehmen nicht nur alles an und auf, sie selbst sind überdies höchst wandelbar und anpassungsfähig.

Ein Gegenstand in einem Regal ist ein toter. Um welche Art Gegenstand handelt es sich bei einem Archiv, dieser systemischen Einrichtung zur Erfassung, Sammlung und Erhaltung von Dingen? Den Sammlungsgegenständen entledigt zeigen die nackten Archive eine reine, grammatikalische Form.

Der Charakter dieser Form ist geprägt durch strukturelle, sich in Mustern wiederholenden Arrangements und Anordnungen von Skeletten und Flächen, einer orthogonalen Staffelung von Vertikalen und Horizontalen – einer Erweiterung der Ebene durch Vervielfältigung und Stapelung. Das Archiv wächst in die Höhe, ist eine Erhebung, es strebt himmelwärts, ist Wegmarke, ein Gestell das sich gegen die Schwerkraft stemmt und gleichermaßen darauf baut. Schränke, Kisten und Kästen, die offenen, wie geschlossenen Konzepte folgen vordergründig dem funktionalen Grundprinzip der Segmentierung und des Rapports, die Wiederholung ist dabei ebenso Zeichen des Temporären, sie folgt dem Prinzip des Rhythmus, durch sie hindurch verwebt sich das Woher mit dem Wohin – ohne Wechsel der Tempi, keine Änderung, keine Irritation. Ein stabiles Ticken einer Struktur der Verlässlichkeit. Das Rasterhafte beruhigt, es befriedet und sediert, während die Dinge, das Lagergut, für das volatil Fluktuierende steht. Das Archiv ist ein Gleichmacher, weil es die Dinge, die es aufnimmt in einen Kanon der Bezüge und in einen Rahmen setzt, in ihm werden die Dinge akzidentiell. Lagerstätten sind, drüber hinaus, wie das Meiste, umgeben von unterschiedlichen unabhängigen Bedeutungsräumen, die sich aufeinander beziehen, voneinander ableiten und ebenfalls strukturelle Qualitäten entwickeln. Zunächst sammeln die Archive die Dinge, um sie zu versammeln, in dem sie sie aufnehmen und aufstellen, in Stellung bringen, d. h. die Organisation, die Struktur des Archivs inkubiert, ist Katalysator weiterer Ordnungsprinzipien, die sich einerseits von der Art der Dinge ableiten und auf die sie, andererseits, zurückgespiegelt werden. Das Ding bereits ist Sammlung, versammelt – das Ding dingt (Heidegger) – und ordnet sich im Kontext der Sammlung oder anderer Ordnungen, wie der Funktionen, Einrichtungen und weiterer Bezüge neu und unter.

Je nachdem, werden unterschiedliche Sammlungen angelegt, die das ganze Spektrum allgemeiner Dingbeziehungen abbilden. Von funktional utilitären Ordnungen, die den leichten und sicheren Zugriff ermöglichen (Bibliotheken / Archive), über die Zusammenstellungen mit ästhetisch distinktiven Hintergründen, die den Sammler schmücken und repräsentieren (Wohnzimmervitrinen / gläsernen Abteile / Arrangement der Besitztümer), hin zu den reinen Sammlungen, die sich in einer Enthemmung eines Sammlungsungrundes verlieren, getrieben auf der Jagd nach einem ominösen noch fehlenden Stück. In diesem letzten Stück allerdings steckt auch die Katastrophe dieses Circulus vitiosus, mit ihm endet der entgrenzte Lauf einer Paradoxie in der der Sammlungsgegenstand, der Inhalt, in der Struktur, der Form kollabiert.

Ein kulturgeschichtlicher Versuch über das Sammeln und Horten muss sich zunächst mit der Geste des sich Sammelns beschäftigen, einer Geste die auf den äußerst fragilen Umstand dessen, was Leben bedeutet verweist, als einem Zustand, der sich am ehesten als Phänomen der Sammlung als Voraussetzung der (Selbst)Behauptung beschreiben lässt, der Konzentration, der Spannung und Haltung gegen die latente Bedrohung der Umgebungskräfte, des Zerfließenwollens, der Entropie – denn alles strebt auseinander und verliert sich, wenn es nicht gehalten wird und sich nicht sammelt. Der Mensch ist, solange er an sich und bei sich hält. Hierzu zählen wesentlich die Dinge, derer er habhaft wird, an denen er sich festhält und entlang hangelt, mit denen er Wälle errichtet gegen den Verlust. Er nutzt sie, um Spuren zu hinterlassen, er schreibt sich mit Ihnen ein in die Welt, sie zeigen an, woher er kommt und wohin er gehen soll, denn bereits in der Spur ist ein Entwurf auf Zukunft angelegt. Darüber hinaus ist jedes einzelne Ding selbst Sammlungsphänomen, Verdichtungen der Form und des Inhalts, Zeugnis und Erzeugnis und als Produkte sind sie Archive des Wissens, der Bedingungen und der Möglichkeiten, spiegelbildlich zeigen sie das Vorhandensein des Menschen und die Handlungs- / Spielräume, sowie das Verbindende und Verbindliche. An und über die Dinge entwickelt sich das Geflecht der Beziehungen des Einzelnen zu sich selbst und zur Gemeinschaft. Und obwohl vergänglich, ist nicht nur an den Solideren etwas das über den menschlich zeitlichen Horizont hinausweist, es ist ihre Interesselosigkeit die den Mythos des Beständigen, überzeitlich Idealen evoziert.

Die menschlichste Form der Sammlung ist die der Eitelkeiten, hier finden sich am ehesten die zwecklosen, die betörenden Dinge, in deren Glanz wir uns spiegeln und gleichermaßen sonnen, deren Attraktivität allerdings einen Vorbehalt formuliert, womöglich einen Attraktivitätsbonus, der darin gründet, dass man ihnen nie ganz habhaft wird, woran der Besitz an ihnen auch wenig ändert. Es ist das Versprechen auf eine narzisstische Auszeit, auf ein Selbstvergessens in einem Momentausstieg, das sich an die schmückenden Dinge heftet, hervorgerufen durch den Reiz des Gefälligen, das an- aber nicht aufregt: niedrigschwelliges Vergnügen an sich selbst.

Die Schönheit des Gegenstandes bleibt ein Lehen. Mit ihm ist es ein fragiles Vergnügen auf Zeit, das sich Schmücken eine Frage des Maßes, bestenfalls finden sich Schmückender und Schmuck in einer Balance, in einem Tét a Tét der Kongruenz und das Resultat ist ein Gewinn – dann steigert sich das Schöne im Schönen.

Betrachtung und Anschauung sind die beiden Pole eines Verhältnisses, das auf den Moment baut, das Gefallen an sich selbst, das (noch) nicht Selbstgefällige, Narzisstische. Es ist das im Grunde Selbstgenügsame, in diesem Sinne, Unschuldige und um so mehr ein besonderer Attraktor, als es die Aufmerksamkeit des Foyers nicht erheischt und, ihn unbeachtet, für diesen um so begehrenswert erscheinen lässt: Schönheit ist bloß ein Versprechen von Glück. (Stendhal)

Die ersten Sammlungsgegenstände der ästhetischen Art werden mitgeführt, Körperattribute, schmückende Akzidenzien, die auf die funktionellen Bedingungen des Körperraumes abgestimmt sind und integriert werden. Die Gegenstände durften die essentiellen Handlungsabläufe nicht behindern. Während der Körper noch der Ort der mehr oder minder eingeschränkten Kontrolle ist, ändert sich das mit der Sesshaftigkeit. Diese wirkt sich aber zunächst insofern auf den Körper aus, als es als ein Zeichen von Luxus zu deuten ist, Dinge mitzuführen, die den Körper nicht nur demonstrativ schmücken, sondern diesen, gerade in Bezug auf essentielle Tätigkeiten, einschränken und behindern – je mehr es sich der Mensch leisten konnte, keinen lebensnotwendigen Tätigkeiten durch Einsatz des Körpers nachgehen zu müssen, desto eher können sich non- und sogar dysfunktionale, rein ästhetisch angelegte Dinge entwickeln. Dies heißt nicht, dass der nun mögliche Aufmerksamkeitshift, von der Notwendigkeit hin zur Kontemplation, eine Bewegung in die Sorglosigkeit wäre. Der nun mögliche zweckfreie Perspektivwechsel vom Existentiellen auf die Existenz lässt nicht nur eine neue, andere Sicht der Dinge zu, es erzeugt Fragen und auch ein Bodenloses, einen Schwindel und damit einhergehend, wie Nitsche es formuliert, »Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins«. Für ihn ist es die Kunst, das Ästhetische, und, wenn nicht das Vergnügen, dann doch die Beruhigung am und durch das Unnütze: »Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.«

Man muss nicht Nitsches Behauptung folgen um angesichts der Unmöglichkeit einer Antwort darauf, warum das alles, eine Tristesse und die Sinnlosigkeit des Daseins zu spüren, welche in ihrer ungeheuren Brutalität den Menschen nicht zumutbar ist.

Eine mächtige Variante des Trostes durch schöne Dinge ist in den besonderen Dingen, den Devotionalien und liturgischen Gegenständen zu finden. Der Glaube an einen Gott, verstanden als eine Methode der Schockbewältigung angesichts universeller Gleichgültigkeit, wird, mangels allgemeiner physischer Präsenz der Sinnschöpfer, und zwar jegliche Couleur, seit Menschengedenken durch Dinge und entsprechende Behausungen bzw. Archive substituiert und repräsentiert. Diesen besonderen Dingen wird, wenn jene auch nicht immer ohne Funktion sind, dann nämlich zweckgebunden an den liturgisch symbolischen Gebrauch, eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Sie zeichnet aus, dass es sich in der Regel, um Dinge gemeinschaftlicher Rezeption handelt, die überindividuell einen allgemein verbindlichen Kodex des Glaubens repräsentieren. Die Organisation oder Sammlung der Dinge, wie bei Asservaten, Bibliotheken und Museen, obliegt in der Regel der Glaubensgemeinschaft. Mit ihnen werden die legitimen Standards des Weltverständnisses und der Lebens- und Todesbewältigung etabliert. Die Behauptung ist schlicht, wo es die Dinge eines Gottes gibt, muss es auch den Gott geben.

Zu den essentiell funktionellen Sammlungen gehören die Werkzeuge. Zunächst recht übersichtlich dienten ein Konvolut aus 2 oder 3 Objekten (Hebel, Schneide und Hammer / Schlagwerkzeug / Projektil) als Medien der Welterschließung. Der noch nicht sesshafte Mensch führte diese mobile Sammlung mit sich. Als Extensionen des Körpers verstanden, musste Hab und Gut leicht, gut zu transportieren und handlich sein. Teil der Sammlung war der Bauplan, denn das Wissen um die Herstellung und Anwendung, war das leichtere Gepäck, sodass das probate Werkzeug an Ort und Stelle mit den vorgefundenen Materialien hergestellt werden konnte.

Mit dem Verzicht auf latente Umtriebigkeit und der Entstehung einer Agrikultur einher, ging zwangsläufig die Entwicklung von Techniken der sicheren Verwahrung der Erzeugnisse, des Aufschubs des natürlichen Verlaufs der Dinge, des Verfalls. Die Speisekammer war Ausdruck und Beleg eines Paradigmenwechsels, statt von der Hand in den Mund waren es nun Gefäße, Tiegel und Töpfe, Behältnisse für das überlebensnotwendige wertvolle Gut als erste Fassung der Ernte als einer Investition in die Zukunft, welche über die Durst- und vor allem Hungerstrecken der fruchtlosen Jahreszeiten hinüberrettete. Die Kammern entwickelten sich als weitere, zweite Fassung der Gefäße – noch finden sich in Kellern und Nischen vergessenes, häufig überlagertes Gut, doch erstaunlich frisch wirken zuweilen Kirsche, Apfel und Birne durch das Glas, ein letzter jenseitiger mütterlicher Gruß der Fürsorge und der Liebe.

Grundsätzlich definiert sich mit der Sesshaftigkeit das Verhältnis der körperzentrierten Machtsphäre neu, diese wird externalisiert und dehnt sich auf einen tendenziell grenzenlosen Raum aus. Anders als der Körper bieten die neuen Territorien vor allem dem Aspekt der Demonstration, der Repräsentanz und Distinktion ein solides Fundament und eröffnen darüber hinaus die Grundlage weiterer bis dahin nicht geübter Sammlungen neuen Typs.

Der Klassiker unter den funktional soliden Sammlungen sind die Bibliotheken die sich nun mit ihren digitalen Entsprechungen, einen tragischen, weil bereits verlorenen Wettstreit liefern. Zwar kann das Phänomen beobachtet werden, dass das Neue zu einer Revitalisierung des Verdrängten führt, dass in Momenten der Verunsicherung – eine Katharsis ist solch ein Moment – die alten Muster bedient werten, ein letztes Aufbäumen – sicher ist sicher und die Bibliotheken wachsen noch, selbst Papyrus hat sich als ausgesprochen haltbar erwiesen, insbesondere gegenüber den fluiden Speicherinhalten deren Gefäße sich als noch ausgesprochen instabil erweisen und, wer auf Sicherheit setzt, setzt, nach wie vor, auf Papier.

Den konventionellen Archiven geht es um Haltbarkeit, als dem zentralen Paradigma, festhalten über die Zeit. Voraussetzung für den Wissensdurstigen ist ein Vorwissen, er muss nicht nur um die Organisation und die Abläufe des Zugriffs Bescheid wissen, er musste sich außerdem aufmachen, auf einen Weg der begleitet wird von Unsicherheit, darüber, dass das Erhoffte auch tatsächlich ein Vorhandenes ist.

Während die Maß- und Ortlosigkeit der Archive der Bits und Bytes den Modus operandi in der Echtzeit darstellen, dem Wissenwollen stets zu Diensten, in einem Entgegenkommen und so ihre Speicher nicht nur in einer Daueranwesenheit halten, sondern in Qualität und Quantität – Go with the Flow – dem Fragenden smart, da unbemerkt, wie ungefragt anpassen: denn sie wissen (bereits) was wir wollen.

Die Beziehung der Archive zu den Dingen ist der, dass die Archive um der Dinge wegen entworfen sind und nicht umgekehrt, die Dinge für eine Behausung. Wobei der Real- oder Nochraum der Nachmoderne von einer Tendenz zur Dominanz der Struktur gegenüber der Form geprägt ist. Hohe Präsenz und der Anspruch auf permanente Verfügbarkeit erfordert, aus Platz-, Energie- und Manövrierungsgründen, schon rein funktional, die regalkonforme Stadt. Die Dinge fluktuieren zwischen den Hochregallagern der Vorstädte und den regalartigen Wohnanlagen, wo sie in die dafür vorgesehen Ordnungsstrukturen der Wohnmodule, auf der Grundlage ordnungskompatibler Prinzipien und Muster überführt, den ihnen zugemessenen Platz finden.

Und noch nehmen die Dingkonglomerate zu, sie häufen sich und werden organisiert, halb atavistische Übersprungsgeste, halb von Unsicherheit getrieben, einem Unbehagen, welches daher rührt, noch nicht sattelfest zu sein, drüben, in der anderen Welt. So akkumulieren die Sammlungen der Realien zunehmend ins Leere, die Dinge verlieren ihren Sinn und wir den Halt an ihnen, die Stoßrichtung eindeutig, zu attraktiv das Hinübergleiten. Der Mensch der Datenbrille, trägt Aktions- und Erlebnisraum auf der Nase, während der Umgebungsraum, der reale, zum öden Transferraum verkommt.

Das letzte Archiv ist idealerweise ein leeres Gehäuse, für nichts bestimmt ist es offen für alles Mögliche, prädestiniert für Retroreflexe und auch ohne Besatz bereits ein starkes Zeichen: das leere Regal, es verführt geradezu zur Reminiszenz an den Verlust, wie das Verlassensein.

In ihm fängt sich höchstens, dann und wann, ein romantisches Gefühl, eine Melancholie, die etwas Staub ablegt in den Ecken.

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